Prognosen gestern, heute, morgen

Yngve Abrahamsen
Yngve Abrahamsen (KOF/T. Domjahn)

Als der junge Ökonometriker Yngve Abrahamsen, heute 66 Jahre alt, Anfang der 1980er Jahre an der HSG in St. Gallen seine ersten Wirtschaftsmodelle für die Schweiz erstellte, waren Lochkarten gerade erst aus dem Arbeitsalltag verschwunden. Auf die Berechnungsergebnisse des Grosscomputers in Zürich musste er eine ganze Nacht warten.

1996 wechselte Abrahamsen an die KOF und erlebte hautnah mit, wie im Laufe seiner langjährigen Tätigkeit an der ETH Zürich die Methoden zur Berechnung der Konjunkturprognose – auch dank gestiegener Rechenkapazitäten – immer weiter verfeinert wurden.

«Man darf einem Modell nicht blind vertrauen.»
Yngve Abrahamsen

Zwar gab es schon seit 1974 Prognosen der Schweizer Konjunktur mit einem gesamtwirtschaftlichen Makromodell. Doch während in den Anfangsjahren in einem heuristischen Verfahren das Expertenwissen, Intuitionen, Erfahrungen, wirtschaftspolitische Überzeugungen und das ökonomische Bauchgefühl noch eine zentrale Rolle spielten, wurde der Modellansatz im Laufe der Jahre und Jahrzehnte immer stärker durch moderne Modellierungstechniken und statistische Methoden getrieben. Die KOF sollte als ein von spezifischen Interessen unabhängiges Institut für empirische Wirtschaftsforschung wahrgenommen werden.

Das bedeutet allerdings nicht, dass heutzutage ein Modell den Menschen ersetzen kann, da jedes Modell seine Grenzen hat. «Man darf einem Modell nicht blind vertrauen», sagt Abrahamsen. Menschliches Expertenwissen sei – auch im Zeitalter der Künstlichen Intelligenz (KI) – unverzichtbar. Der gesunde Menschenverstand helfe, Scheinkorrelationen auszuschliessen, so Abrahamsen, der die Weiterentwicklung des sogenannten KOF Makromodells als Leiter der Sektion Schweizer Konjunktur von 2002 bis zu seiner Pensionierung im Jahr 2023 über zwei Jahrzehnte massgeblich mitprägte. In das KOF Makromodell gingen zuletzt 635 Variablen ein. Es wurden 328 Variablen für die Schweizer und die internationale Konjunktur berechnet, davon 50 in stochastischen Gleichungen.

Zauberwort Modellpluralismus

Heutzutage sind bei den vierteljährlichen Konjunkturprognosen sogar mehrere Modelle gleichzeitig im Einsatz. Mit dem Generationenwechsel – seit 2023 tragen Dr. Samad Sarferaz (45 Jahre) und Dr. Alexander Rathke (46 Jahre) die Hauptverantwortung für die Erstellung der Prognosen – hat auch eine neue Modellgeneration Einzug gehalten.

Samad Sarferaz (links) und Alexander Rathke (rechts)
Samad Sarferaz (links) und Alexander Rathke (rechts) (KOF/T. Domjahn)

«Wir sprechen gerne von Modellvielfalt oder Modellpluralismus», erklärt Samad Sarferaz, Co-Leiter des Forschungsbereichs Konjunktur und Data Science. So laufen im Prognoseprozess vier bis fünf Modelle gleichzeitig. «Jedes hat seine eigenen Stärken und Schwächen», so der Ökonom. Ein Prognosemodell, das Bayesianische VAR, wurde von ihm und Alexander Rathke speziell für den Einsatz bei der KOF angepasst bzw. implementiert und lernt beispielsweise aus seinen eigenen Prognosefehlern. Allerdings seien diese Lernprozesse teilweise für den Forschenden nicht nachvollziehbar. Alles hängt irgendwie von allem ab. «Es ist fast wie eine Blackbox», so Sarferaz.

«Je nachdem, was man prognostizieren will, sind die Modelle verschieden gut geeignet. Wie in einem Werkzeugkasten ist nicht jeder Schraubenzieher für jede Schraube geeignet.»
Alexander Rathke

Bei klassischen Makromodellen spielt die ökonomische Theorie eine viel grössere Rolle, es gibt eine klar definierte Beziehung zwischen den Variablen und man weiss, wo die Ergebnisse herkommen. Allerdings sind diese Modelle in ihrer Fähigkeit, aus Daten zu lernen, begrenzt und weisen nicht die Flexibilität moderner, datengetriebener Ansätze auf.

Mensch, Modell und Maschine

«Je nachdem, was man prognostizieren will, sind die Modelle verschieden gut geeignet. Wie in einem Werkzeugkasten ist nicht jeder Schraubenzieher für jede Schraube geeignet», erklärt Alexander Rathke, seit letztem Jahr Leiter der Sektion Schweizer Konjunktur. Wie sein Vorgänger Yngve Abrahamsen hält auch Alexander Rathke den Faktor Mensch für unersetzlich. «Es kann sein, dass durch Sonderfaktoren bestimmtes Wissen nicht in das Modell einfliesst. Das können dann die Fachexperten nachjustieren», so Rathke. Zudem gehe es bei einer Konjunkturprognose nicht nur um einen numerischen Wert, sondern auch um die konsistente Geschichte dahinter. Und diese Art von Interpretation kann der Mensch heute immer noch deutlich besser als eine Maschine.

An der KOF werden die Faktoren Mensch, Modell und Maschine in einem aufwendigen Prozess kombiniert. «Das ist in dieser Tiefe und Breite in der Schweiz einmalig», sagt Rathke. So sind an der Erstellung der Prognose etwa 20 Expertinnen und Experten beteiligt.

«Prognosen dienen als Leitplanke. Sie geben Orientierung, vergleichbar mit einem Wetterbericht. Auch wenn er nicht immer zu 100% richtig ist, hilft er für die Planung.»
Samad Sarferaz

Das neu an der KOF entwickelte Makromodell namens KOMA ermöglicht neben der präzisen Konjunkturprognose auch eine verbesserte Darstellung von Unsicherheiten, ergänzt Sarferaz. «Der Modell-Output liefert gleich eine Unsicherheitsberechnung mit. Sie muss nicht mehr wie vorher ex-post berechnet werden.» Das könne der Leserschaft des Konjunkturberichts ein Gefühl über die Genauigkeit der Prognose geben.

KOF Konjunkturprognose
Die neu gestalteten Konjunkturprognosen der KOF. Sie werden vierteljährlich veröffentlicht. (KOF/N.Koch)

Empirie statt Ideologie

Eine Punktlandung der Prognose sei eher die Ausnahme als die Regel und auch gar nicht das Ziel. «Prognosen dienen als Leitplanke. Sie geben Orientierung, vergleichbar mit einem Wetterbericht. Auch wenn er nicht immer zu 100% richtig ist, hilft er für die Planung», sagt Sarferaz.

«Die Datenqualität ist wichtiger als die Menge an Daten.»
Yngve Abrahamsen

Wie Abrahamsen sieht auch Sarferaz es als Vorteil, dass durch den datenbasierten Modellansatz wirtschaftspolitische Ansichten weitgehend ausgeblendet werden. «Unser Denken ist empirisch getrieben. Wir gehören zu keinem ideologischen Lager. Man muss weltanschaulich flexibel sein, um aus den Daten zu lernen.»

Signal versus Rauschen

Dabei sind mehr Daten nicht immer zwingend besser. «Man muss sich immer fragen, wie viel Signal und wie viel Rauschen zusätzliche Daten bringen. Wenn sie nur mehr Rauschen bringen, schaden zusätzliche Daten mehr, als sie nutzen», erklärt Rathke. Ähnlich sieht es Abrahamsen. «Die Datenqualität ist wichtiger als die Menge an Daten.»

Angesprochen auf sein Hobby, erklärt der passionierte Segler die Gemeinsamkeiten des Sports mit Konjunkturprognosen. «Man muss beim Segeln immer die äusseren Rahmenbedingungen wie das Wetter mitberücksichtigen. Nur wenn man die Daten gut analysiert, kann man das Boot sicher navigieren.» Ähnlich sei es beim Erstellen einer Konjunkturprognose. «Als guter Prognostiker oder gute Prognostikerin muss man immer auf dem Laufenden sein, sowohl in Bezug auf Daten und Methoden als auch hinsichtlich politischer und wirtschaftspolitischer Debatten», so Abrahamsen.

«Jede Wirtschaftskrise und jede konjunkturelle Konstellation hat ihre Eigenheiten und ist nicht völlig gleich wie in der Vergangenheit.»
Jan-Egbert Sturm

Large Language Models und Big Data: eigene KI-Tools als Zukunftsvision

Hans Gersbach und Jan-Egbert Sturm
Hans Gersbach (links) und Jan-Egbert Sturm (rechts) im Gespräch. (André Springer)

Und wie geht es in der Zukunft mit der KOF Konjunkturprognose weiter? Jan-Egbert Sturm und Hans Gersbach, die beiden Direktoren der KOF, haben da eine klare Vision. «Wir hoffen, dass wir durch den verstärkten Einsatz von Künstlicher Intelligenz bei der Analyse von Daten, bei der Programmierung und beim Verfassen von Texten noch schneller und besser Konjunkturprognosen erstellen können», sagen sie – nicht ohne eine wichtige Einschränkung zu machen. «Es wäre falsch, die KI automatisiert einzusetzen. Die Verifikation der Ergebnisse sollte nach wie vor durch uns geschehen», erklärt Hans Gersbach.

«Wir hoffen, dass wir durch den verstärkten Einsatz von Künstlicher Intelligenz [...] besser Konjunkturprognosen erstellen können. Konkret geht es um sogenannte Large Language Models, die wie ein neuronales Netzwerk funktionieren und mit enorm grossen Datenmengen trainiert werden können, um uns bei der Analyse von wirtschaftlichen Zusammenhängen zu unterstützen.»
Hans Gersbach
Jan-Egbert Sturm
Jan-Egbert Sturm (André Springer)

«Jede Wirtschaftskrise und jede konjunkturelle Konstellation hat ihre Eigenheiten und ist nicht völlig gleich wie in der Vergangenheit. Deshalb kann man in solchen Situationen nicht nur mit Daten aus der Vergangenheit arbeiten, sondern muss auch menschliches Know-how einbinden, um Wissen einfliessen zu lassen, das noch nicht in den Daten enthalten ist», erläutert Jan-Egbert Sturm. Es sei eine Stärke der KOF Prognose, dass in mehreren Diskussionsrunden Expertenwissen einfliesse, das die Computerwelt bis heute nicht liefern könne. So haben während der Corona-Krise zuvor bewährte Modelle auf einmal nicht mehr funktioniert, so dass die KOF zu dieser Zeit verstärkt auf Szenarien und Expertenwissen setzen musste.

In der Zukunft will die KOF auch eigene Tools mit Künstlicher Intelligenz entwickeln. Ein erstes Projekt mit dem AI Center der ETH Zürich ist bereits lanciert. «Konkret geht es um sogenannte Large Language Models, die wie ein neuronales Netzwerk funktionieren und mit enorm grossen Datenmengen trainiert werden können, um uns bei der Analyse von wirtschaftlichen Zusammenhängen zu unterstützen», erklärt Hans Gersbach.

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